Zugegeben: Dieser Artikel wird dir nicht dabei helfen, besser zu schreiben. Nicht direkt. Aber: Er wird helfen zu verstehen, dass Schreiben ein Prozess ist und kein Zustand. Die gute Nachricht: Das bedeutet, jeder kann besser schreiben lernen. Die schlechte: Übung macht den Meister. Schreiben lernt man durch Schreiben ( – und Lesen, aber das ist eine erfahrungsgeprüfte Annahme, die wissenschaftlich noch nicht ganz eindeutig geklärt ist).

Schreibforschung? Kann man Schreiben überhaupt erforschen?

Ja, man kann. Schreibforschung ist eine relativ junge Disziplin mit Einflüssen der Germanistik und der Erziehungswissenschaften. Und ziemlich interessant. Hätte ich mich je für die wissenschaftliche Laufbahn und nicht für den Überlebenskampf des Berufskapitalismus entschieden: Schreibforschung wäre meine Disziplin geworden. Aber darum soll es hier gar nicht gehen, sondern darum, Dir ein paar Begriffe, Thesen und Annahmen auf die Schreibreise mitzugeben.

Thesen über das Schreiben

Schreiben ist ein Prozess

Um Gedanken in einen für den Leser verständlichen Satz verpacken zu können und diesen aufzuschreiben, sind eine Vielzahl an Vorgängen nötig. Dieser „Schreibprozess“ wurde von Forschern in immer kleinere Teile zerlegt, um ihn ganz zu verstehen, und noch immer ist man auf der Spur nach dem Modell, dass den Prozess am besten beschreibt. Wer sich ausführlich dafür interessiert: Das Modell von Hayes und Flowers gilt als Grundlage und ist ein guter Einstieg, um das komplexe Netz zu verstehen. Wichtig ist: Schreiben ist kein Zustand, sondern etwas, dass sich entwickelt und ständig selber überarbeitet. Du kennst das vielleicht vom Ausatzschreiben in der Schule: Der Anfang war schwer, danach ging’s mit jedem Aufsatz etwas besser. Warum? Bei jedem Aufsatz, bei jedem neuen Satz, probiert man aus, verwirft oder übernimmt, lernt dazu.

Planen, Umsetzen, Überarbeiten

Grob gesagt lässt sich der Schreibprozess mit den drei Teilprozessen „Planen, Umsetzen und Überarbeiten“ beschreiben. Zuerst wird der Satz/Text im Kopf geplant, dann auf’s Papier gebracht und schliesslich nochmals kontrolliert und überarbeitet. Die drei Schritte darf man sich jetzt aber nicht wie eine geregelte Abfolge von Punkten vorstellen, sondern eher wie ein Kreis oder ein Netz, bei dem die Prozesse immer wieder von neuem oder gleichzeitig gestartet werden. Beispiel: Während ich einen Satz schreibe (also umsetze), plane ich bereits den nächsten und korrigiere den Satz zugleich dementsprechend. Oder weil ich einen Satz anders umsetze als geplant, muss ich rückwirkend Änderungen vornehmen. Schreiben ist ein komplexer Vorgang – und je erfahrener der Schreiber, umso komplizierter wird er. Jedoch: Während Anfänger noch Mühe beim Planen und Umsetzen haben (Überarbeitung ist meist noch gar nicht möglich), geschieht bei den Profis vieles gleichzeitig und völlig unbewusst.

Das Schreibalter – Schreibe und lerne daraus

Warum diese Unterschiede von einem Schreibanfänger zu einem Profi? Ist Schreiben eine Technik, die man wie Fahradfahren erst mal können muss, ehe man ohne Stützräder losfahren kann? Unterscheidet die Anfänger von den Profis also, dass erstere noch Stützräder brauchen? Richtig, aber auch falsch: Schreiben ist nicht einfach eine Technik, die man lernt und dann umfassend anwenden kann. Nur weil ich gerade auf dem Fahrad fahren kann und vielleicht weiss, wie ich eine Halfpipe rauf und runter komme, macht mich das zwar besser als den kleinen Nachbarsjungen mit den Stützrädern, aber ausgelernt hab ich trotzdem nicht. Schreiben ist ein (lebenslanger Schreib-)Prozess. Fahradfahren werd ich zwar nicht verlernen, wenn ich nicht mehr auf das Zweirad steige. Aber ich werde auch nicht besser darin.

Beim Schreiben ist es ähnlich: Um besser zu werden, muss ich Schreiben üben und Erfahrungen sammeln. In der Forschung spricht man hier von dem sogenannten „Schreibalter“ (vgl. Feilke 1996). Dieses beschreibt, wie „erfahren“ jemand in seinen Schreibtätigkeiten ist.

Ein Beispiel: Ich hatte das Glück, schon während der Primarschule bei allen meinen Lehrern viel schreiben zu dürfen. Wir hatten richtige Wochentagebücher, Schreibwerkstätten und regelmässige Aufsätze. In der Kanti traf ich zum ersten Mal auf andere Schülerinnen und Schüler aus anderen Schulen und merkte: Das viele Schreiben war etwas Aussergewöhnliches und nicht selbstverständlich. Dazu kam, dass ich da ja schon fleissig selbst Seiten um Seiten voll mit Text produzierte. So hatte ich als Teenie völlig unbewusst Stunden um Stunden, ja viele Tage an Schreiberfahrung gesammelt. Zusammengerechnet ergab diese Zeit mein Schreibalter.

Ein fiktives Gegenbeispiel: Angenommen, ein anderer Schüler hatte bisher nur selten die Gelegenheit zu schreiben, weil Aufsätze erst in der Oberstufe ein Thema wurden und er selbst kaum je mehr als ein, zwei Sätze in einer SMS an Freunde geschrieben hat (damals vor Whatsapp und Snapchat war das Chatten mit Freunden noch eine seltene Angelegenheit). Dieser Schüler hat also deutlich weniger Schreibjahre angesammelt.

Das bedeutet: Obwohl gleich alt in „Menschenjahren“ und obwohl der fiktive Schüler sehr wahrscheinlich sogar cleverer und intelligenter sein könnte: Dank meines Schreibalters wird es mir sicherlich leichter fallen, eine neue Art Text zu lernen und umzusetzen, beispielsweise wenn es darum geht, plötzlich wissenschaftliche Seminararbeiten zusammen zu schustern. Oder anders gesagt: Obwohl vielleicht erst zwanzig, kann ein „alter Schreiber“ unter Umständen gleich „gut“ oder sogar „besser“ schreiben als ein ebenso fähiger Fünfzigjähriger mit nur wenig Schreibjahren.

Aber keine Sorge: Falls du jetzt merkst, geneigter Leser, dass dein eigenes Schreibalter nicht mal zweistellig ist, keine Sorge. Das Schöne an der Erkenntnis ist nämlich: Indem du schreibst, wirst du älter und besser.

20 % Talent, 80 % Handwerk

Dieser Grundsatz stammt nicht aus der Schreibforschung, sondern ist ein häufig zitierter Merksatz aus der Schule des Kreativen Schreibens (vgl. Gesing 2005). Er hat aber mit dem Begriff des Schreibalters zu tun. Denn ich kann mein Schreibalter nicht nur durch Erfahrung erhöhen, sondern auch durch die Anwendung von Techniken und Werkzeugen des Schreibens. (Extrem interessant, gerade in der Schreibforschung werden diese Werkzeuge (oder Prozeduren) gerade erforscht und kategorisiert). Warum? Das Handwerk kann mir helfen, gute, verständliche Texte zu produzieren, nachzuahmen und selbst daraus zu lernen. Wenn aber das Handwerk allein für einen Text ausreichen würde, würde das bedeuten, dass Schreiben ein Prozess mit einem Ende ist: Habe ich alle Techniken entdeckt und kann sie umsetzen, bin ich ein Meister. Alle guten Schriftsteller würden im Umkehrschluss also ganz genau gleich schreiben. So einfach ist es natürlich nicht. Deshalb kommen hier die 20% Talent dazu: Das ist der Teil, den ich mit meiner Persönlichkeit und meinen Vorlieben in meinen Text hineingebe, mit den Werkzeugen spiele und sie vielleicht bewusst anders einsetze, als eigentlich vorgesehen.

Was bedeutet das jetzt für mein Schreiben?

Gratuliere! Die Lösung ist ganz einfach: Schreibe. Du hast nichts zu verlieren. Traust du dir nicht zu, dass deine 20 % Talent ausreichen, tolle Texte zu schreiben? Bau dein Handwerkswissen aus und sammle Schreibjahre. Du hast das Gefühl, schon viel Handwerk gelernt zu haben, aber dir fehlt der richtige Dreh? Schreibe. Und schreibe. Und schreibe. Hör nicht mehr auf und sammle Schreibjahre. Werde besser. Bau deine 20 % aus, indem du schreibst. So oder so kannst du nur besser werden und musst niemandem von Null auf beweisen, dass du ein Genie oder „geborener Autor“ bist. Das gibt es schlichtweg nicht. Starautoren oder Teenie-Schriftsteller haben einfach mehr Schreibjahre und mehr Handwerk – und vermutlich viel mehr Glück oder Ehrgeiz bei der Verlagssuche. Aber das heisst nicht, dass du nicht besser werden kannst.

In meiner kleinen Schreibfibel werde ich meine Erfahrungen auf der Schreibreise deshalb festhalten, Werkzeuge und Techniken teilen, aber auch ganz egoistisch Schreibjahre sammeln. Schreibst du mit?